„Durch Selbsttätigkeit zur Selbstständigkeit“ – der Reformpädagoge Hugo Gaudig

Wer vor dem imposanten, in den Jahren 1905 bis 1907 im Stil der Neo-
renaissance errichteten Gebäude in der Lumumbastraße 2 steht, fragt sich unwillkürlich nach der ursprünglichen Bestimmung dieses Wohnhauses. Ältere Leipzigerinnen und Leipziger erinnern sich, dass hier einst die Studierenden des Herder-Institutes der Uni ein- und ausgingen. Zuvor wurde das Gebäude einige Jahre als Arbeiter-und-Bauern-Fakultät genutzt, an der Rosemarie Sacke-Gaudig, die jüngste Tochter des Reformpädagogen Hugo Gaudig, tätig war. Zeitweilig arbeitete sie sogar im ehemaligen Amtszimmer ihres Vaters, der von 1907 bis zu seinem Tod 1923 der hier beheimateten II. Höheren Mädchenschule als Rektor vorstand.

Geboren 1860 bei Nordhausen, studierte Gaudig in Halle Theologie, Altphilologie und neuere Sprachen, wirkte als Lehrer an den Franckeschen Stiftungen in Halle und wechselte 1900 nach Leipzig an die Städtische Höhere Schule für Mädchen, die er mit einem Lehrerinnenseminar verband. Seine neuartigen Lehrmethoden bewirkten, dass die Zahl der Schülerinnen sprunghaft anstieg. Ein größeres Gebäude wurde nötig: die 1907 eröffnete II. Städtische Höhere Mädchenschule mit Lehrerinnenseminar.
Diese Schule in der damaligen Döllnitzer Straße baute Gaudig zum Zentrum seiner Reformpädagogik aus. Er verfolgte dabei das Prinzip der Selbsttätigkeit, das er als freie geistige Schularbeit zur Persönlichkeitsbildung der Lernenden verstand. Wichtiges Anliegen war ihm, den überwiegend vom Lehrer dominierten Frageunterricht zu überwinden und ein Unterrichtsgespräch durchzusetzen. Dazu führte er die Schülerfrage in den Unterricht ein, um eine Wechselwirkung von Lehrer- und Schülertätigkeit zu erreichen.

Gaudig gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Arbeitsschule in Deutschland. Er starb am 2. August vor 100 Jahren. 1927 wurde die II. Höhere Mädchenschule in „Gaudigschule“ umbenannt. Eine der Schülerinnen dieser Einrichtung war die spätere Kriegsfotografin Gerda Taro, die ab 1929 hier lernte. Nach 1933 war Gaudigs Reformpädagogik, die Individualität betonte und zu eigenständigem Denken anregte, nicht mehr gefragt.

Die Stadt Leipzig ehrte Hugo Gaudig anlässlich seines 150. Geburtstages 2010 mit einer Gedenktafel am Gebäude der ehemaligen I. Höheren Mädchenschule am Gaudigplatz.

Interessantes Detail zum Abschluss: Hugo Gaudig soll sehr angetan gewesen sein von der künstlerisch wertvollen Ausstattung der Schulaula in der Döllnitzer Straße mit Bildern aus dem Aschenbrödel-Zyklus des Malers Moritz von Schwind. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie allerdings übermalt, zwei Bilder aber entkamen der Zerstörung, wurden 1990 entdeckt und fanden schließlich einen Ausstellungsplatz im Foyer des LVZ-Gebäudes am Peterssteinweg.

Die Städtische Höhere Schule für Mädchen (heute Evangelisches Schulzentrum) war Hugo Gaudigs erste Wirkungsstätte in Leipzig.
Text | Fotos: Dagmar Schäfer