Zwischen Gründerzeit und Plattenbau: Ein kleines Hochhaus in Kleinzschocher

Zu den eher weniger prominenten Straßenzügen im Leipziger Westen gehört die Diezmannstraße in Kleinzschocher. Westlich des Bahnhofs Plagwitz führt sie von der Antonienstraße nach Süden und biegt dann in Richtung der Meyerschen Häuser nach Westen ab. Dabei erschließt sie Kleingartenanlagen, Sportplätze, Gewerbebetriebe und Brachflächen. Aber auch stadtgeschichtlich bedeutsame Orte, von denen einige heute verschwunden sind. In der Diezmannstraße 12 beispielsweise befand sich das Zwangsarbeiter*innenlager „Mangold“ der Landmaschinenfabrik Rudolf Sack; bis 1950 standen die Holzbaracken, zuletzt genutzt als Quarantänelager für Geflüchtete aus den Ostgebieten.
Gleich nebenan, auf dem Grundstück Diezmannstraße 14, entstand ab 1969 ein ganz besonderes Gebäude. Vor dem Bau des damals in Planung befindlichen Wintergartenhochhauses im Leipziger Zentrum war ein „großtechnischer Versuch“ nötig, denn erstmalig bei einem Wohnhochhaus der DDR sollte die sogenannte Gleitbauweise zum Einsatz kommen. Bei dieser technisch anspruchsvollen Bauweise läuft der Betoniervorgang des Bauwerks unterbrechungsfrei, während die Schalung laufend nach oben mitwandert. Zur Erprobung dieses Verfahrens stellte das Wohnungs- und Gesellschaftsbaukombinat Leipzig einen Teil seiner Betriebsfläche zur Verfügung. In der Baugenehmigung von Juni 1979 heißt es: „Als Großversuch für das Bauvorhaben Leipzig-Wintergartenstraße – Wohnhochhaus – soll auf dem Lagerplatz 1a des VE WGK Leipzig an der Diezmannstraße ein ca. 11 x 11 m großer Grundrißausschnitt des o.a. Vorhabens probeweise bis auf die Höhe von vier Normalgeschossen (…) errichtet werden. Eine Unterkellerung ist nicht vorgesehen. Dieser Experimentalbau soll später für Lagerzwecke genutzt und dazu mit einer später anzufügenden, traditionellen Treppenanlage versehen werden. Konstruktiv handelt es sich um ein in Gleitschalung hergestelltes, monolithisches Betonbauwerk mit während des Gleitprozesses eingefügten Deckenplatten, Stürzen und Fassadenverkleidungen.“
Gebaut wurde damit sozusagen ein Viertel des Grundrisses des Wintergartenhochhauses. Der viergeschossige Probebau wurde mindestens bis 1990 intensiv genutzt. Im Erdgeschoss waren Sozial- und Technikräume des Baukombinates untergebracht, die Obergeschosse dienten Lager- und Bürozwecken. 1972 entstand ganz oben sogar eine Wohnung für einen langjährigen Mitarbeiter aus der Abteilung Gerüstbau. Anfang der 2000er Jahre wurde das „kleine Wintergartenhochhaus“ abgerissen; weder der genaue Zeitpunkt noch die Gründe dafür sind uns bekannt.

Die unverwechselbare Fassade wurde erstmalig an der Diezmannstraße erprobt.
Foto: Appaloosa_LE unter Lizenz CC BY-SA 3.0