Unvergessener Klangzauber

Im Alter von 40 Jahren wurde Arthur Nikisch 1895 Chefdirigent gleich zweier bedeutender Orchester: des Leipziger Gewandhausorchesters und des Berliner Philharmonischen Orchesters. Dirigieren war für Nikisch „Seelensprache“, wie er selbst es nannte, und in dieser Weise brachte er neue Töne in das neu erbaute Gewandhaus im Musikviertel.
Der am 12. Oktober 1855 in Ungarn geborene Arthur Nikisch galt zunächst als geigerisches Wunderkind, studierte am Wiener Konservatorium und kam 1878 als Chordirigent ans Leipziger Stadttheater. Hier rief seine besondere Art zu dirigieren viel Bewunderung beim Publikum hervor, so dass er schon nach kurzer Zeit zum Ersten Kapellmeister berufen wurde.
Nach zehn Jahren erfolgreichen Wirkens in Leipzig nahm er ein Angebot aus den USA an: Nikisch wurde für vier Jahre Chef beim Boston Symphony Orchestra. Nach zwei weiteren Jahren als Operndirektor in Budapest kehrte er nach Leipzig zurück und leitete als Gewandhauskapellmeister eine glanzvolle Zeit für das Orchester ein.
Bewunderer schwärmten von Nikischs Begabung, nannten ihn einen Klangzauberer, dessen Konzerte elektrisierten. Nikisch dirigierte mit nur wenigen sparsamen Bewegungen, hatte das Orchester vor allem mit suggestivem Blick im Griff. Sein hervorragendes Gedächtnis gestattete es ihm, fast alle Konzerte ohne Partitur zu dirigieren.
Der österreichische Dirigent Erich Kleiber, von 1923 bis zu seiner Emigration 1935 Chefdirigent an der Staatsoper Berlin, erinnerte sich: „Geradezu unheimlich waren seine gewaltigen Crescendi; wo andere mit beiden Armen turnen mussten, hob Nikisch die linke Hand langsam hoch und das Orchester brauste wie ein Meer auf.“
Nikisch stellte jede Spielzeit unter ein Programm-Motto, nahm klassische und romantische Meisterwerke auf, machte aber auch zeitgenössische Musik bekannt. Wichtige Ur- und Erstaufführungen fanden in seiner Amtszeit statt, vor allem die Uraufführung von Anton Bruckners 7. Sinfonie und die deutsche Erstaufführung von Tschaikowskis 6. Sinfonie. Die geplante Erstaufführung der Sinfonie der kroatischen Komponistin Dora Pejacevic (1885-1923) konnte Nikisch nicht mehr dirigieren, da er am 23. Januar 1922 einer Grippeerkrankung erlag. Das Leipziger Gewandhausorchester will diese Aufführung, die nach Nikischs Tod aus dem Programm genommen wurde, nun aus Anlass seines 100. Todestages nachholen.
Arthur Nikisch gilt im Zusammenwirken mit dem Leipziger Arbeiterbildungs-Verein auch als Initiator der jährlichen Silvester-Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven ab 1918. Bereits seit 1915 gab Nikisch im Gewandhaus Konzerte für Arbeiterinnen und Arbeiter zum Eintrittspreis von 60 Pfennigen.

Dagmar Schäfer