Erste deutsche Märchen­autorin: Benedikte Naubert


Was wäre Weihnachten ohne Märchen? Lange Winterabende sind wie geschaffen dafür, Märchengestalten für Groß und Klein lebendig werden zu lassen. 1812 schrieben die Gebrüder Grimm Literaturgeschichte, als der erste Band ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ erschien. Wenig bekannt hingegen ist, dass bereits von 1789 bis 1793 – vor 230 Jahren – die „Neuen Volksmährchen der Deutschen“ in vier Bänden mit 30 märchenhaften Erzählungen, Mythen und Sagen vorgelegt wurden – von der aus Leipzig stammenden Schriftstellerin Benedikte Naubert. Auf über 1200 Seiten erzählt sie unter anderem von den Nibelungen, Tannhäuser und Rübezahl, vom Rattenfänger von Hameln, von Frau Holle und der Weißen Frau. Naubert ist damit die erste Autorin, die deutsche Sagen und Märchen sammelte und veröffentlichte.
Benedikte Naubert, die 1756 als Tochter des Leipziger Medizinprofessors Johann Ernst Hebenstreit geboren wurde und eine für Mädchen damals ungewöhnlich gute Ausbildung erhielt, veröffentlichte die Märchensammlung anonym, ebenso wie ihre weiteren literarischen Werke – historische Romane und Erzählungen. Sie gilt heute als Begründerin des modernen historischen Romans, für den sie die Schreibtechnik des „Zweischichtenromans“ entwickelte, indem sie eine erfundene private Geschichte in die Weltereignisse einband und damit ein neues Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Phantasie schuf. 36 Romane stammen aus ihrer Feder, darüber hinaus übersetzte sie 14 Romane aus dem Englischen, schrieb für Zeitschriften – und sammelte Märchen aus aller Welt. Im Anschluss an ihre Sammlung deutscher Märchen veröffentlichte sie bis 1797 „Alme, oder Egyptische Märchen“. 1806 brachte sie mit „Heitere Träume in kleinen Erzählungen“ die Texte französischer Märchenerzählerinnen heraus.
Mit der pseudomännlichen Anonymität, die sie selbst einen „Schleier vor Lob und Tadel“ nannte, schützte sich Benedikte Naubert sowohl vor gesellschaftlichen als auch literarischen Vorurteilen. Ihr war bewusst, dass ihr außerordentlich hohes Bildungsniveau als unweiblich galt und eher unerwünscht war.

Erst 1817, zwei Jahre vor ihrem Tod, wurde Nauberts weibliche Verfasser-Identität gegen ihren Willen aufgedeckt – mit den von ihr vorhergesehenen Folgen: Ihr Werk, das bis dahin viel Aufmerksamkeit erregt hatte, wurde nun als „Trivialliteratur“ abgetan, da es von einer Frau verfasst war. Erst in jüngerer Zeit werden die literarischen Arbeiten von Benedikte Naubert, die vor 200 Jahren in Leipzig starb, neu gewürdigt.
Dagmar Schäfer
Abb: Archiv der Autorin

Christiane Benedikte Naubert mit ihrem Pflegesohn Ernst Eduard Wilhelm Hebenstreit, 1806.