„Eine Elfe war ich nie“

Freitag, der 13. November 2020. Für den einen oder anderen vielleicht ein schwarzer Tag. Für Gertrud Johannsen jedoch ein ganz besonderer, ein glücklicher Tag. Sie konnte an diesem Freitag, dem Dreizehnten, ihren 100. Geburtstag feiern – selbstbestimmt, in den eigenen vier Wänden. Seit über 20 Jahren wohnt sie in Paunsdorf. Früh und Nachmittag schaut der Pflegedienst vorbei, aber den alltäglichen Einkauf lässt sie sich nicht nehmen. Auch zum Friseursalon Schäfer fährt sie mit ihrem „Mercedes“, wie sie schmunzelnd erzählt und dabei auf ihren Rollator zeigt. „Und mit der Straßenbahn ist es ja nicht weit bis zum Paunsdorf Center, da gehe ich gern bummeln und gönne mir ein Backfischbrötchen“, plaudert sie und ihre blauen Augen strahlen vor Lebensfreude.
In ihrem Ledersessel hat sie es sich bequem gemacht, die weißen Haare frisch gewellt, eine modische Bluse und schwarze Hosen unterstreichen den feierlichen Anlass. Mit einem Lächeln auf den Lippen erzählt sie uns von ihrem bewegten Leben. Namen, Jahreszahlen, Begegnungen – all das und vieles mehr ist in ihrem Kopf so gespeichert als lägen nicht Jahrzehnte, sondern nur Tage dazwischen.
68 Jahre lebte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern in der Wurzner Straße 177. Auch Ehemann Carl zog nach der Hochzeit 1955 in die 3-Raum-Wohnung. „Mutter gab uns das große Schlafzimmer“, erinnert sie sich. Erstaunlich sei es schon gewesen, dass Carl 25 Jahre mit der Schwiegermutter eine Wohnung teilte, fügte sie lachend an. „Aber wir fühlten uns alle in der ,Wurzner‘ wohl. Nur das Kohlenschleppen wurde mit den Jahren schwerer.“ So waren sie glücklich, im Jahr 2001 eine eigene Neubauwohnung am Paunsdorf Wäldchen zu erhalten – mit Heizung und warmen Wasser aus der Wand. Dass der Block vor Jahren abgerissen wurde, kann sie bis heute nicht verstehen. Ihren Unmut darüber habe sie auch der Stadtverwaltung schriftlich kundgetan. „Im Schreiben bin ich besser als im Reden“, erklärt sie, wobei das eigentlich nicht stimmt. Detailliert erzählt sie aus ihrem Leben, von einer glücklichen Kindheit im Leipziger Osten, von ihrer zweijährigen Kontoristinnen-Ausbildung in der Hohen Straße, von ihrer Tätigkeit im Versand des Mitteldeutschen Braunkohlensyndikats am Leipziger Markt und von ihrer Leidenschaft zum Sport. Im Turnverein Ost 1858 habe sie mit „Leibesübungen“ begonnen. Auch im Arbeitersportverein in der Fichtestraße war sie aktiv. Und bis ins neunzigste Lebensjahr hinein radelte sie mit dem Fahrrad durch
Paunsdorf und Umgebung. „Sport war mein Leben“, resümiert sie. Nur einmal stieß sie an ihre Grenzen. Als sie sich einer Freundin zuliebe in einer Tanzgruppe als „Elfe“ bewarb, wurde sie abgelehnt. „Mir war selbst schon klar: Eine Elfe werde ich nie.“
Paunsdorf ist sie treu geblieben, auch nach dem Tod von ihrem Carl. Einsamkeit kenne sie nicht, sie erfreue sich an den kleinen Dingen des Alltags, lebe gern in ihrer schmucken Zweiraum-Wohnung mit Balkon, auf dem es grünt und blüht. Noch immer besuchen sie alte Freunde aus der Wurzner Straße, so auch zu ihrem 100. Geburtstag. Das einzige, was sie wirklich traurig stimmt, wären ihre schwächer werdenden Augen. „Ich würde so gern noch ein paar Bücher lesen, die in meinem Regal stehen“, so ihr Wunsch an diesem Freitag, dem Dreizehnten.

Text | Foto: Elke Rath

100 Jahre jung geblieben: Gertrud Johannsen